Samstag, 14. September 2013

...und vom Hexenturm


Werft sie in den Turm

Nach einem Winter mit Schnee und Frost bis in den Mai wehte endlich milde Frühlingsluft durch die offene Tür herein. Die Familie saß um den Holztisch herum, in der Mitte eine Schüssel Getreidebrei. Lautes Geplapper und helles Kinderlachen. Jeder schob mit dem Löffel seinen Anteil zu sich heran, der Vater den größten. Die Kleinen beeilten sich, damit sie auch genug bekamen. Peter saß auf Margreths Schoß. Er lutschte an einem Stück Brot und bekam von der Mutter ab und zu einen Löffel in den Mund geschoben. Gänse liefen herum, versuchten herunterfallende Brocken zu erhaschen.
Plötzlich sprang Margreth auf und setzte das Kind ihrer Ältesten auf den Schoß. Der Kleine begann jämmerlich zu weinen und streckte die Ärmchen nach ihr aus.
„Was ist los mit dir, Frau?“, fragte Bauer Feldmann.
„Schau doch da.“
Zwei Männer kamen durch das Feld auf das Haus zu. Margreth rannte zur Leiter, stieg hinauf und versteckte sich im Heu. Dazu hatte sie allen Grund, wurde sie doch von den Leuten im Dorf argwöhnisch beobachtet, seitdem Anna Faust in der peinlichen Befragung ausgesagt hatte, sie sei zusammen mit ihr beim Hexentanz gewesen.
Bauer ging zur Tür und wurde sofort heftig zur Seite geschubst.  Der Dorfbüttel war das. Der hastete an ihm vorbei und kletterte auf den Heuboden, wusste er doch, wo er zu suchen hatte.
„Wir haben Anweisung, deine Frau zum Schloss zu bringen“, sagte der Wirt, der nun auch hereingekommen war. „Das Hofgericht erwartet sie.“
„Aber …“
„Kein Aber, Mann. Sie ist der Zauberei verdächtig. Anweisung ist Anweisung.“
Peter schrie laut auf, als die Mutter nach draußen gestoßen wurde. Die hörte ihn noch lange weinen, als sie sich vom Haus entfernte. Auch ihr liefen die Tränen über das Gesicht. Zwischen den zwei Bewachern torkelte sie den weiten Weg über die Felder, durch das Stadttor und dann direkt zum Schloss.

Der Büttel schob sie in einen großen dunklen Raum mit braunen Butzenscheiben. Beim Hofmeister erstattete er Bericht. Der saß inmitten der vier Männer des Hofgerichts am Tisch auf einem Podest. Mit starren Mienen blickten sie herab auf die zitternde Frau.
„Margreth, Hans Feldmanns Frau, geboren vor dreiunddreißig Jahren. Warum hast du dich auf dem Heuboden versteckt, als der Dorfbüttel und der Wirt dich holen wollten?“,  begann der Hofmeister das Verhör.
„Wollte Futter für das Vieh holen.“
„Red keinen Unsinn. Was ist mit den Kühen des Schultheißen, von denen jedes Mal eine verendet ist, wenn du ihm zwischen das Vieh gelaufen bist?“
„Weiß nicht.“
„Und mit dem Pferd vom Brückenschmied, das rasend geworden und über die Stalltür gesprungen ist, weil du es verzaubert hast?“
„Kann nicht zaubern.“
„Dann willst du wohl auch abstreiten, dass du deiner Tochter Magdalene das Zaubern beigebracht hast?“
„Sag doch, ich kann nicht zaubern.“
„Warum hast du dann im Feld zu ihr gesagt, wenn du gewusst hättest, wie man mit den Zauberischen umgeht, würde sie das Zaubern nie von dir gelernt haben?“
„Hab ich nicht.“
„Der Sauhirt hat’s gehört.“
„Der Sauhirt ist ein Lügner“, sagte Margret.
„Überleg dir gut, was du sagst. Wie erklärst du dir, dass die Anna Faust behauptet, ihr wärt zusammen beim Hexentanz gewesen?“
„War nie beim Hexentanz.“
„Beantworte meine Frage.“
„Hat einen Zorn auf mich gehabt.“
„Und warum hat diese Hexe bis zu ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen behauptet, du seiest dabei gewesen beim Tanz mit dem Satan?“
„Weiß nicht warum.“
„Dir soll schon noch was einfallen“, schimpfte der Mann und winkte den Büttel herbei. „Werft sie in den Turm.“

*

Im Pfarrhaus hatte die Winterkälte die Mauern noch nicht ganz verlassen. Dorothea hatte die Dienstmagd angewiesen, den Kachelofen anzuheizen. Er verbreitete eine wohlige Wärme in Stube und Arbeitszimmer. Johannes wollte seine Predigt für den nächsten Sonntag vorbereiten. Er saß an seinem Schreibtisch aus dunklem Holz und schaute hinaus auf den Marktplatz. Rechts die Kirche, gegenüber das Schloss.
Zwei Jahre war es jetzt schon her, seit der Graf ihn in die Stadt geholt hatte, um den Menschen die reformierte Lehre zu predigen. Jedoch hatte er sich die Arbeit als Pfarrer an diesem Ort nicht so schwierig vorgestellt. Was sollte er den Menschen predigen, da sie gerade mit Mühe und Not den langen Winter überstanden hatten? Nach einem kalten verregneten Sommer mit nachfolgenden Missernten hatten sie nicht genug zu essen und große Mühe, Futter für die Tiere aufzutreiben. So machte ihnen auch das Viehsterben zu schaffen. Und auf die neue Ernte mussten sie nun erst einmal lange warten. Wo war der barmherzige Gott, fragten sie sich. Konnte er das den Menschen verdenken? Sie litten bitterste Not.
An diesem Tage fiel es Pfarrer Johannes besonders schwer, seine Gedanken für die Predigt zu ordnen. Seitdem sie Margreth Feldmann wegen Hexerei in den Turm gebracht hatten, schlief er kaum eine Nacht. Sie schreckten doch vor nichts zurück. Bilder aus seiner Kindheit ließen ihn nicht los. Dichtes Gedränge auf dem Marktplatz. Eine junge Frau mit zerzausten Haaren, festgebunden auf einem Karren. Das Gegröle der Leute. ‚Hexe mit ihrer Teufelsbrut’ und ‚Brennen muss sie’. Als der Karren ganz nah an ihm vorbei holperte, sah er, dass sie schwanger war. Mit unermesslicher Trauer im Gesicht blickte die Frau ihn an.
Nun war er ein erwachsener Mann und noch immer waren diese schrecklichen Geschehnisse weit verbreitet. Gerade vor einigen Tagen hatte man Anna Faust mit großem Spektakel auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wie kam es nur, dass die Menschen einander derartige Grausamkeiten zufügten? Nirgendwo in der Bibel stand, dass sie das tun sollten. Und in diesem Buch kannte er sich bestens aus. Es lag vor ihm, die wichtige Stelle für die Sonntagspredigt bereits aufgeschlagen: Tut Ehre jedermann, habt die Brüder lieb, fürchtet Gott und ehret den König.
Hört nicht auf Verleumdungen und Lügen, würde er den Menschen predigen. Manche wollen ihren Mitmenschen schaden mit üblem Gerede und falschen Anschuldigungen. Verurteilt niemanden zu Unrecht. Du sollst kein falsches Zeugnis geben, spricht der Herr. Glaubt nicht alles, was die anderen über jemanden erzählen. Guckt euren Nächsten an und ihr werdet sehen, er ist wie ihr. Die Wahrheit findet ihr in seinem Gesicht und nicht in den bösen Worten mancher Lügner. Die haben nichts anderes im Sinn, als den Sonnenschein zu verdunkeln. Sie sollen daran denken, dass sie dabei auch sich selbst das Licht wegnehmen.
„Du solltest eine Pause machen, Johannes.“ Dorothea stand in der Tür.
„Ist es schon so weit, Frau?“
„Zeit zum Abendessen. Ich kann jetzt auch eine Mahlzeit gut vertragen, hab ich doch zusammen mit Agnes den ganzen Nachmittag im Pfarrgarten die Erde gelockert.“
„Ja, das schöne Frühlingswetter, jetzt muss man den Boden vorbereiten. Pass nur auf, dass du dich nicht übernimmst.“
„Morgen werden wir mit der Aussaat beginnen. Dann komm jetzt herüber, Johannes.“

*

Der Mond schien in die Kammer. Dorothea saß im Bett und schaute zu ihrem Mann. Sie war aufgewacht, weil der sich unruhig hin- und herwälzte.
„Kannst du nicht schlafen?“
„Ich denke die ganze Zeit an die Frau von Bauer Feldmann. Vor einigen Tagen haben sie sie in den Turm gebracht.“

„Eine Zauberische, sagen sie auf dem Marktplatz. Das Vieh vom Brückenschmied und vom Schulzheißen hat sie tot gezaubert.“

[...]


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